* 32 *
Während Jenna, Septimus und Beetle in Wolfsjunges Biege traumlos schliefen und Ullr den Geräuschen des Waldes lauschte, befand sich ein kleines Fährboot auf einer gefährlichen Überfahrt zur Burg. Der Fährmann hatte einen hohen Preis für die Fahrt ausgehandelt, und dennoch bereute er es bereits, denn Strömung und Wind waren stark, und als sie die Mitte des Flusses erreichten, schwappte mit jeder Welle, die gegen das Boot schlug, Wasser ins Innere.
Auch die Fahrgäste begannen, die Fahrt zu bereuen.
»Wir hätten bis zum Morgen warten sollen«, jammerte Lucy Gringe, als der Kahn beängstigend krängte und ihr Magen sich in die entgegengesetzte Richtung schob.
»Mach dir keine Sorgen, Lucy«, sprach ihr Simon Heap Mut zu. »Ich habe schon Schlimmeres erlebt.« Das war zwar gelogen, aber jetzt war nicht die rechte Zeit für übertriebene Wahrheitsliebe.
Lucy sagte gar nichts mehr, denn sie fürchtete, dass sie sich dann übergeben müsste, und sie wollte nicht, dass Simon das sah. Ein Mädchen musste immer den Schein wahren, sogar in einem schäbigen kleinen Ruderboot. Sie schloss ganz fest die Augen und konzentrierte sich auf ihre Gedanken. Das entsetzte Gesicht, das Simon heute Nachmittag bei ihrer Rückkehr ins Observatorium gemacht hatte, ging ihr nicht mehr aus dem Kopf. »Lucy«, hatte er ihr in panischer Angst zugeflüstert, »geh sofort wieder die Treppe runter und sattle Donner. Sofort!«
Lucy hatte es nicht gern, wenn Simon ihr Vorschriften machte, und normalerweise wagte er das auch gar nicht. Aber diesmal spürte sie, dass es wichtig war. Sie rannte die Treppe mit den schlüpfrigen Schieferstufen hinunter, an der grusligen alten Magog-Kammer vorbei, und als Simon zu ihr stieß, war Donner bereits wieder gesattelt und bereit zum Aufbruch. Sie hatte Simon gefragt, was denn geschehen sei, aber alles, was er sagen wollte, war: »Ich habe einen Sichtzauber gewirkt.«
Jetzt näherten sie sich dem anderen Ufer, und das Wasser wurde ein wenig ruhiger. Lucy atmete auf. Wenn es stimmte, was Simon gesagt hatte – nämlich dass sie nie wieder einen Fuß in dieses grässliche Observatorium setzen würden –, wäre sie wirklich sehr froh, aber noch lieber wäre es ihr, sie würden nicht in die Burg zurückkehren. Sie würde viel lieber nach Port weiterreisen. Port gefiel ihr. Dort war es viel lustiger als in der Burg. Außerdem bestand dort keine Gefahr, dass sie zufällig ihrer Mutter oder ihrem Vater über den Weg lief.
Doch der wichtigste Grund, warum Lucy nicht in die Burg zurückwollte, war Simon selbst. Simon hatte anscheinend ganz vergessen, dass er vor fast einem Jahr aus der Burg hatte fliehen müssen. Lucy wusste nicht genau, was geschehen war, aber sie hatte allerhand schlimme Dinge gehört. Die meisten glaubte sie zwar nicht, aber einige waren wahr, das wusste sie. Ihr Bruder Rupert hatte gesehen, wie Simon einen Feuerblitz gegen Septimus, Nicko und Jenna schleuderte, und sie war sich sicher, dass Rupert nicht schwindelte. Und es gab noch mehr Geschichten. Zum Beispiel, dass Simon unter Zuhilfenahme von DomDaniels Knochen versucht habe, Marcia mit einem bösen Zauber zu belegen, und dass ihm das beinahe geglückt wäre. Oder dass Marcia damit gedroht habe, Simon für immer ins Gefängnis zu werfen, falls er je wieder einen Fuß in die Burg setzen sollte.
Lucy betrachtete ihren schönen Ring – der selbstverständlich nicht vom Räumungsverkauf in Drago Mills Lagerhaus stammte – und seufzte. Warum konnten sie und Simon kein normales Leben führen? Warum konnten sie nicht wie alle anderen sein? Ihre Hochzeit planen, eine Wohnung suchen – ein bescheidenes Zimmer in den Anwanden würde genügen. Warum konnte sie nicht mit Simon ihre Eltern besuchen, warum konnten Rupert und er nicht Freunde werden? Warum? Das war ungerecht. Einfach ungerecht.
Das Boot legte an der Anlegestelle für Nachtfähren an, direkt unterhalb von Sally Mullins Tee- und Bierstube. Der Fährmann Micky Mullin, einer der zahlreichen Neffen Sallys, machte erleichtert das Boot fest und wünschte seinen durchnässten Fahrgästen eine gute Nacht. Er sah ihnen nach, wie sie wackelig in Richtung Südtor gingen – das, wenn man wusste, wo man nachzusehen hatte, über eine kleine Pforte verfügte, die die ganze Nacht offen war –, und fragte sich, was sie wohl vorhatten. Obwohl Simon die Kapuze tief ins Gesicht gezogen hatte, war Micky nicht entgangen, dass er die unverwechselbaren Züge eines Heap hatte. Simon war mittlerweile Anfang zwanzig und sah seinem Vater erstaunlich ähnlich. Micky beschloss, am nächsten Morgen seine Tante zu besuchen. Sie hielt gerne einen Schwatz, und sie backte einen guten Gerstenkuchen.
Als sie durch die leeren Straßen gingen, in denen sie vor dem schlimmsten Wind geschützt waren, war Lucy immer noch ungewöhnlich still.
»Ist alles in Ordnung, Lucy?«, fragte Simon.
»Wären wir doch nur nicht zurückgekommen«, antwortete Lucy. »Ich habe Angst, dass sie dich finden und für immer einsperren.«
Simon zog einen zerknitterten Brief hervor, den sie bei ihrer Rückkehr gefunden hatte. Lucy stieß einen Seufzer aus. Hätte sie den Brief doch nur nie gesehen. Er hatte neben dem Weg, der zum Eingang des Observatoriums führte, unter einem Stein gelegen. Und der Umschlag hatte den Stempel ZUGESTELLT VOM PORTER PAKETPOSTDIENST getragen, und das hatte sie neugierig gemacht. Inzwischen kannte sie den verflixten Brief auswendig, aber sie hörte erneut zu, als Simon die in einer winzigen, eckigen Handschrift verfassten Zeilen nun laut vorlas.
Der Brief war auf offiziellem Briefpapier des Manuskriptoriums geschrieben, und darin stand:
Lieber Simon,
ich nehme an, Du hast bemerkt, dass ich fort bin.
Vielleicht hast du auch bemerkt, dass noch etwas anderes fort ist. Ich habe Spührnase Spürnahse Spürnase mitgenommen, und jetzt gehört er mir. Er ist gern bei mir. Wenn Du mich suchen kommst, sorge ich dafür, dass jemand Dich findet. Wie Du an diesem Schreibpapier siehst, hat man meine Tallente Talente endlich erkannt, denn ich habe hier eine gute Stelle. Eine viel bessere, als ich bei Dir hatte.
Ich bin wieder da, wo ich hingehöre, aber Dich will hier niemand mehr haben. Nicht in einer Milion Million Jahren. Haha.
Dein ehemaliger treuer Diner Diener
Merrin Meredith/Daniel Jäger/Septimus Heap
»Ich habe dir gesagt, dass er damit nicht durchkommt, Lucy«, erklärte Simon und stopfte den Brief wieder in die Tasche. »Er hat sich mit zwei anderen Taugenichtsen zusammengetan – keine Ahnung, wer dieser Daniel Jäger ist, aber dass der kleine Sonnenschein Septimus nichts taugt, habe ich von Anfang an gewusst –, und jetzt glaubt er, er könne mir Angst machen, damit ich ihm Spürnase überlasse. Er wird bald merken, dass er sich da gewaltig geschnitten hat.«
Lucy schüttelte den Kopf. Was war das nur mit den Jungs und ihren Streitereien? »Dafür, dass du nur deinen Ball wiederhaben willst, war es ein weiter Weg«, sagte sie.
Als Sarah Heap ihren Schreck verdaut und begriffen hatte, dass das Simon war, der da an ihr Wohnzimmerfenster klopfte, wusste sie nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Also tat sie beides gleichzeitig. Lucy stand betreten daneben und überlegte, ob sie nicht auch ihre Mutter besuchen sollte. Und dann, als Sarah begann, Simon mit Fragen zu bombardieren – wo er gewohnt habe, was er tue, ob er wirklich all diese furchtbaren Dinge getan habe, wie die Leute behaupteten, und warum er denn nie geschrieben habe –, da dachte sich Lucy, dass es wahrscheinlich besser sei, ihre Mutter nicht zu besuchen. Jedenfalls noch nicht.
Lucy und Simon saßen am Kamin in Sarahs Wohnzimmer und aßen, während ihre Kleider trockneten, Brot, Käse und Äpfel, die Sarah aus der Küche geholt hatte. Lucy gefiel die Unordnung im Zimmer, und von der stoppeligen Ente mit dem gehäkelten Jäckchen, die auf Sarahs Schoß saß, war sie begeistert. Lucy mochte die Heaps. Sie waren viel interessanter als ihre eigene Familie.
»Ich möchte nicht wissen, was Marcia tut, wenn sie dich hier antrifft«, sagte Sarah, die anfing, sich Sorgen zu machen. »Sie ist neuerdings immer schlecht gelaunt. Äußerst empfindlich. Und gar nicht nett. Ich bekomme Septimus nie zu sehen, und sie weiß es, und trotzdem sagt sie jedes Mal, wenn ich sie treffe, zu mir, sie hoffe, dass es mir Freude mache, ihn so oft zu sehen. Zieh nicht so ein Gesicht, Simon. Ich will nicht, dass du weiter mit deinem kleinen Bruder streitest, ist das klar? Ob das klar ist?«
Simon zuckte mit den Schultern. »Ich bin es nicht, der Streit sucht. Er hat mir Spürnase gestohlen«, brummelte er vor sich hin.
»Was gestohlen?«
»Nichts«, knurrte Simon. »Ist nicht so wichtig.«
Sarah seufzte. Sie war glücklich, Simon nach so langer Zeit wiederzusehen, doch sie wünschte, er wäre nicht so zornig. »Niemand darf wissen, dass du hier bist – niemand«, sagte sie zu ihm. »Du musst dich mit Lucy im Palast verstecken, bis wir eine Lösung gefunden haben.«
Lucy gähnte und wankte schläfrig hin und her. Sarah verstand. Vorsichtig setzte sie die Ente auf den Boden und erhob sich. »Ihr müsst müde sein«, sagte sie und schenkte Lucy ein besorgtes Lächeln. »Wie wär’s, wenn wir euch ein bequemes Bett suchen?« Lucy nickte dankbar. Sie fand Simons Mutter nett.
Eine halbe Stunde später schlief Lucy tief und fest im warmen Bett eines riesigen Gästezimmers mit Blick auf den Fluss. Simon jedoch, der einen Stock höher unterm Dach einquartiert war, starrte trübsinnig aus dem Fenster. Und da merkte er, dass etwas nicht stimmte ... da fehlte etwas. Die Lichter des Zaubererturms waren nicht zu sehen. Er riss das Fenster auf und spähte in die stürmische Nacht hinaus. Unter sich sah er die verstreuten Lichter der Burg. Die Fackeln an der Zaubererallee flackerten und tanzten im Wind, aber die große lila Leiter, die magischen Lichter, die sonst immer den Himmel über der Burg erhellten, waren einfach nicht da.
Simon wusste, dass er unmöglich in seiner kleinen Kammer bleiben und sich den Kopf darüber zerbrechen konnte, was im Zaubererturm vorging – er musste es herausfinden. Als er langsam und vorsichtig die quietschende Zimmertür öffnete und auf Zehenspitzen über den Flur schlich, kam er sich albern vor wie ein kleiner Junge, der sich davonstahl, um ein Abenteuer zu erleben, obwohl ihm die Mutter gesagt hatte, er solle zu Hause bleiben und seine Hausaufgaben machen. Er war so damit beschäftigt, keinen Lärm zu machen, dass er nicht bemerkte, wie Merrin, der soeben von einem weiteren nächtlichen Besuch in Mutter Custards Süßwarenladen zurückkam, auf der obersten Treppenstufe auftauchte. Bei Simons Anblick hätte sich Merrin vor Schreck beinahe an seinem letzten Bananen-Schinken-Kaubonbon verschluckt. Er blieb abrupt stehen und duckte sich hinter einen dicken Balken an der Wand.
Merrin war wie gelähmt vor Angst, als sein alter Meister auf Zehenspitzen vorbeihuschte. Er wollte seinen Augen nicht trauen. Wie hatte Simon ihn gefunden? Woher wusste er, dass er hier war? Er wagte nicht einmal, den Kopf zu drehen, und beobachtete, wie Simon die Treppe hinunterschlich und dabei so vorsichtig auftrat wie er selbst in seinen ersten Tagen im Palast.
Simon schlüpfte durch einen Nebeneingang ins Freie, und bald schritt er die Zaubererallee hinauf, dem Dunkel entgegen, das, wie er wusste, den Zaubererturm barg. Trotz allem, was er getan hatte – und was er heute selbst kaum glauben konnte, was hatte er sich nur dabei gedacht? –, trotz allem hatte er immer noch ein starkes Interesse am Zaubererturm. Tief in seinem Innern wollte er immer noch Außergewöhnlicher Zauberer werden. Nur nicht mehr mit den Mitteln der schwarzen Magie. Das empfand er inzwischen als Betrug. Er wollte sein Ziel auf anständige und ehrliche Weise erreichen, damit Lucy stolz auf ihn sein konnte.
Im Grunde wusste Simon, dass sein Traum niemals in Erfüllung gehen würde. Und dennoch zog es ihn zum Zaubererturm hin, dennoch wollte er wissen, was dort vor sich ging.
Als er sich dem Großen Bogen am Eingang zum Hof näherte, sah er davor eine größere Menge von Burgbewohnern versammelt, die leise und aufgeregt miteinander sprachen. Offensichtlich war er nicht der Einzige, dem aufgefallen war, dass die magischen Lichter erloschen waren. Er zog sich die Kapuze tief ins Gesicht und quetschte sich, alle Proteste ignorierend, zum Bogen durch, bis plötzlich zwei große Gestalten vor ihm standen, die ein magischer Nebel umgab. Die beiden gehörten, was er freilich nicht wusste, zu den sieben Questenwächtern, die gekommen waren, um den Lehrling auf die Queste zu geleiten. Als er zielstrebig auf sie zutrat, kreuzten sie unter lautem Krachen die Schäfte ihrer Piken und versperrten ihm den Weg durch den Bogen.
»Halt!«, brüllten sie. Simon blieb stehen. Er nahm seinen Mut zusammen und fragte: »Was geht hier vor?«
»Belagerung!«, lautete die knappe Antwort.
Ein besorgtes Murmeln lief durch die Menge hinter Simon.
»Warum?«, fragte er.
Die Antwort der Wächter kam prompt und fiel anders aus als erwartet. Sie zückten ihre Dolche und stachen nach Simon, wobei einer seinen Umhang aufspießte.
»Pack dich!«, bellten sie.
Die Menge stob auseinander. Erschrocken riss Simon seinen Mantel von der Dolchspitze los und ging so langsam, wie er sich traute, davon. Davon träumend, wie er den Zaubererturm stürmte, die Belagerung brach und von einer dankbaren Marcia Overstrand gebeten wurde, ihr Lehrling zu werden, ging er um die Mauer herum, die den Hof umschloss, aber die Pforten waren alle mit einem Zauber verriegelt. Alles, was er sah, waren die geisterhaften Umrisse des Zaubererturms im Mondlicht, und alles, was er hörte, waren der Schrei einer Eule und das Schlagen einer Tür in der Ferne, als einer aus der geflüchteten Menge sein sicheres Haus erreichte.
Simon ging langsam zum Palast zurück. Das, dachte er bei sich, wäre nicht passiert, wenn er der Lehrling wäre. Womit er natürlich recht hatte.
Unterdessen packte Merrin im Palast wütend seinen Rucksack. Warum, so fragte er sich, warum nur ging immer alles schief? Kaum hatte er ein Zimmer ganz für sich allein gefunden, musste dieser Blödian von Simon Heap auftauchen und alles verderben. Warum? Als er das Zimmer verließ, blickten ihm mehrere alte Geister nach, darunter auch der zutiefst erleichterte Geist einer Gouvernante. Merrin schlich durch den schlafenden Palast nach unten, schlüpfte ins Freie und steuerte auf den Schuppen im Kräutergarten zu. Zumindest dort, sagte er sich, würde er keinen ehemaligen Meistern begegnen.
Wie sehr er sich täuschte.
Doch Merrin machte kurzen Prozess. Wutentbrannt packte er den Sack mit DomDaniels Knochen, schleifte ihn aus dem Schuppen und schleuderte ihn, nachdem er ihn ein paarmal hin und her geschwungen hatte, über die Gartenmauer. Der Sack flog in einem perfekten Bogen auf die andere Seite und landete mit einem dumpfen Schlag in Billy Pots ehemaligem Gemüseacker, der nun das Zuhause eines gewissen Mr. Feuerspei war, wie Billy Pot den Drachen respektvoll nannte.
Feuerspei schlief weiter, nicht ahnend, dass soeben ein Frühstück gelandet war.